Der Hals der Giraffe – Judith Schalansky

K640_Hals der GiraffeSuhrkamp 2012,   222 Seiten.   

>> Mit der Biologielehrerin Inge Lohmark schafft die Autorin eine Figur, die nicht zum Sympathieträger taugt. Bewundernswert allein ihr  Wissensspektrum über Botanik, Genetik, Evolution und  Erdgeschichte– Frau Schalansky chapeau! Dass diese Fähigkeiten bei Inge Lohmark in ein sozialdarwinistischen Weltbild münden, dem jede Empathie gegenüber Schülern und Mitmenschen abgeht, ist nicht zwingend. Mehr als 30 Jahre Schuldienst hinterlassen ein provokatives Fazit: “Schüler waren Blutsauger, die einem die Lebensenergie raubten“(9) „Schüler waren natürliche Feinde“(202) und Lohmarks pädagogisches Credo lautet folgerichtig „hart sein, konsequent sein, unberechenbar bleiben“. Mag wie beim  Sitzplan der Klasse 9 mit seiner süffisanten Charakteristik noch ein gewisses Schmunzeln beabsichtigt sein, so verstummt das Lachen, wenn Lohmark ihr survival of  the fitest proklamiert: „Es lohnte sich einfach nicht die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper“. Es ist nur ein schmaler Grat zur Euthanasie, wenn von Außenseitern wie dem Nachbarn Hans –„die arme Sau“ die Rede ist. „Ohne Funktion am Leben bleiben. Nutzloses Dasein. Auf Kosten anderer. Das gab es auch nur bei den Menschen“(79). Desolate Beziehungen wohin man schaut. Ob die eigene Ehe mit Wolfgang, ob das Verhältnis zur Tochter Claudia, ob Inge Lohmarks Elternbeziehung, ob die Beziehung von Nebenfiguren wie Astrid und Joachim („wenn einer krepierte, würde der andere draufgehen“) oder ganz beiläufige Begegnungen mit einer gewissen Marie Schlichter („Das Gehirn war eine Fallfrucht“) – überall Zeichen des Verfalls. Auch in größerem Maßstab: Das Charles Darwin Gymnasium steht vor der Abwicklung, vier Jahre Restlaufzeit, die ganze pommersche Region nach der Wende in Auflösung begriffen, Entvölkerung, Verkümmerung der Infrastruktur  – statt sozialistischen Helden der Arbeit Wolfgang als Held der Regionalzeitung in Sachen Straußenzucht. Nur ein einziges Mal fällt Inge Lohmark aus ihrer misanthropen Rolle, bricht sich Verdrängtes Bahn, schwächelt die distanzierte Pädagogin. Die leider nur sehr kurz angedeutete Erika-Episode – es bleibt bei erträumter weiblicher Pädophilie- zeigt menschliche Brüche in der Figur Inge Lohmarks. Der stärkste Teil des von Schalansky sicherlich mit provokativem Untertitel versehenen „Bildungsromans“ sind  Beobachtungen zum schulischen Alltag, die die Autorin als Insiderin ausweisen . Das Ensemble des Lehrpersonals, vom Westimport Kattner mit seinem Mittwochsappell über den ewig gestrigen Thiele, die großartige kuschelpädagogische Schwanneke als Lohmarks Gegenbild bis hin zur Nebenfigur des Hausmeisters Kalkowski, trefflich und zuweilen witzig skizziert. Auch bei der Charakterisierung  bestimmter Schülertypen  und ihrem Verhalten im (z.B. bei Lohmarks  unangekündigter Leistungskontrolle) und außerhalb des Unterrichts (Bus) gelingen Schalansky  überzeugende Nahaufnahmen. Bleibt abschließend zu fragen, ob der Roman nicht mehr Heiterkeit als Bitternis verdient hätte. Note: 3+ (ai)<<

>> Ich bin froh, dass die Lehrerin meiner Töchter nicht Inge Lohmark hieß. Warum hat niemand verhindert, dass sie Lehrerin wurde? Eine Frau ohne einen Funken Empathie. Mit der ihr eigenen Intelligenz und ihrem analytischem Vermögen hätte sie in einem Forschungslabor sicherlich Großes geleistet. Aber  am Arbeitsplatz Schule, wo es nur so von jungen Menschen aus Fleisch und Blut wimmelt? Eine Fehlbesetzung. Sicher, es mag die von ihr beschriebenen Schülertypen geben. Den Schüler, der den Tag im passiven Widerstand verbringt. Oder auch den Typ „Vampir“. Mit diesem Schülerbild und einem falsch verstandenen Darwinismus (eher Lohmarkismus) rechtfertigt sie ihr Verhalten den ihr Anbefohlenen gegenüber. Aber es gibt doch auch viele völlig andere Schulbesucher. Zum Glück, und mit einigen hält man  deswegen auch Kontakt noch lange nach Ende der Schulzeit. Man könnte kritisch anmerken, dass sich nichts bis wenig entwickelt im Laufe des Romans. Aber was sollte sich unter den gegebenen Voraussetzungen auch entwickeln? Stellenweise finden sich seitenlange biologische Exkurse, die für Laien nicht immer leicht verständlich sind. Aber man lernt dabei auch manch Neues: „Männer sind Nichtfrauen“ (S.128). Über den neuen Lehrplan, der Homosexualität als Variante des Sexualverhaltens präsentiert, ist die Biologielehrerin nicht begeistert. Da die Inhaltsangabe bei Wikipedia gelungen ist, kann ich mich kürzer fassen als gewohnt und dafür Bildmaterial hinzufügen.
Insgesamt ein gutes Buch, weil es der Autorin gelungen ist, eine Persönlichkeit zu zeichnen, die nach außen stark und unbesiegbar wirkt, innerlich aber bereits ge-oder zerbrochen ist. Besonders deutlich wird dies an der Beziehung zur Tochter und auch zum Partner. Eine einzige Schülerin (Erika)  vermag in ihr Gefühle der Zuneigung zu wecken („Selbst mit offenem Mund war sie schön“).  Aber die Angst ist größer als das Sehnen. Dabei ist das Herz der Giraffe wichtiger als der Hals. Note: 1/2 (ax)<<

>>Inge Lohmark ist Biologie-Lehrerin vom alten Schlag an einem in Abwicklung befindlichen Charles-Darwin-Gymnasium im vorpommerschen Hinterland. Fachlich äußerst kompetent,  aber in ihrer Einstellung zum Beruf ebenfalls stark vom  Darwinismus geprägt. Kurze Leine, mitleidlos mit Schwachen und Versagern. Nein, eigentlich keine Sympathieträgerin. Ihr Blick auf Schüler, Kollegen, Eltern („Waren die Kinder schlimm, waren die Eltern noch schlimmer“) analytisch, kalt, präzise, keinesfalls politisch korrekt. Aber gerade diese im Wesentlichen als innerer Monolog vorgetragenen Einschätzungen zeichnen auf sehr gelungene und auch witzige Weise das Bild einer klugen, aber an den Verhältnissen und an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterten Person in einem von Zerfall gezeichneten Osten.  Im Leistungsdenken des realen Sozialismus aufgewachsen, kommt sie mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr zurecht. Auch in ihrem Verhältnis mit der eigenen Tochter ist sie gescheitert. Judith Schalansky zeichnet ein sprachlich gelungenes und intelligentes  Psychogramm. Leider etwas zu viel an Vererbungslehre. Note: 2– (un)<<

 >>Im verwaisten Flachland Mecklenburg-Vorpommerns werden die Schulen eingeebnet, Lehrerkollegien in gymnasiale Reservate zwangsumgesiedelt und Pädagogen zur bedrohten Spezies. Unter ihnen auch die lupenrein biologistisch veranlagte Lehrerin Inge Lohmark als Fossil einer ausgestorbenen Weltanschauung. Zutiefst verinnerlichte Prinzipien eines Charles Darwin hat Inge Lohmark über 30 Jahre zum Glaubensbekenntnis verdichtet, welches wenig Raum für pädagogische Ideale lässt. Die Schule ist für sie ein Gehege, in dem Schüler kaum mehr als überanstrengte Landwirbeltiere im Wachstum sind – eine Gattung, auf die die Erdanziehung dreifach zu wirken scheint und unsägliche Müdigkeit verursacht. Pubertät entpuppt sich als eine qualvolle Metamorphose, die nur selten Schmetterlinge hervorbringt, wohl aber Parasiten am Lehrkörper. Aus den leeren Hinterköpfen der Schüler strömt Inge Lohmark ein schwitzender Freiheitsdrang entgegen. Dieser Drang ist nicht nur unappetitlich, sondern soll ihr die anhaltende Angst vermitteln, ihre Aufsichtspflicht zu verletzen. Doch Inge Lohmark ist berüchtigt für ihr markantes Profil: haarscharfer Schnitt, klare Kante, verbuchte Verletzungsgefahr gerade für Schüler als Unterste im schulischen Wirkgefüge. In der Natur gilt das Prinzip des Stärkeren. Nur die nachweislich Belastbaren und genetisch Qualifizierten verdienen  Aufmerksamkeit.

Das Wunderbare der Naturgesetze ist für Inge Lohmark die unbegrenzte Gültigkeit in Raum und Zeit, in der DDR wie in der BRD, im Kapitalismus wie im Sozialismus. Doch das will und wollte niemand hören – weder die inklusionsverliebten Sozialpädagogen der Jetztzeit noch die marxistisch-leninistischen Parteigenossen, für die es nur den biologischen Phänotyp gab, weil das Individuum ein Produkt der Gesellschaft zu sein hatte und nur das. Inge Lohmark eckt an – damals wie heute. Damals als die den Genotyp-predigende Klassenfeindin, heute als sozial inkompetente, frontalunterrichtende Darwinistin. Da scheint es ihr nur logisch, dass die überall lauernden Pilze die urgeschichtliche Vorherrschaft irgendwann wieder erlangen und auch Mecklenburg-Vorpommern in blühende Landschaften verwandeln werden. Die wiederholte Kritik an ihr von Aufsichtsbehörde und Schulleiter verhallt im Rauschen ihrer Überzeugung. Warum wollen die nicht begreifen, dass sich gegenseitig quälende Schüler lediglich Naturgesetzen folgen. Bedauerlicherweise gilt selbst bei Elternabenden die inverse Erbregel: Sind die Kinder schlimm, sind die Erziehungsberechtigten noch schlimmer. Dennoch gibt es Momente mentaler Instabilität, die Inge Lohmark schon mal zu dem biologischen Unsinn verleiten, dass der Hals der Giraffe deshalb so lang geworden sei, weil die Tiere sich engagiert nach hoch hängenden Früchten gestreckt hätten. Die Schüler sollten sich ein Beispiel nehmen.
Inge Lohmark ist gefangen in ihrem kompromisslosen Strukturalismus, der weder Empathie noch pädagogische Intuition kennt. Besonders schockierend wirkt die Szene, in der ihre von den Mitschülern gemobbte Tochter zusammenbricht und sich verzweifelt auf dem Klassenzimmerboden windet, ohne dass Inge Lohmark zu irgendeiner Anteilnahme fähig wäre. Alligatoren kennen auch keine Brutpflege. Nicht überraschend lässt ihre erwachsene, später in die USA ausgewanderte Tochter die Mutter nicht mehr an ihrem Leben teilhaben. Auch Inge Lohmarks Verhältnis zu ihrem Mann ist kaum intimer als die Beziehung eines Nadelgehölzes zur Petersilie. Fortan geht der Gatte in der Zucht von Straußenvögeln auf, die ihm deutlich mehr Beachtung schenken.  Gelegentlich aber wird Inge Lohmark von Gefühlsphantasien belästigt. So wirken die blassen Pädophiliegedanken an eine junge Schülerin fast schon wie Lebenszeichen einer Verschollenen, bleiben jedoch platonisch.
Der Roman verzichtet weitgehend auf Handlungsstränge und Entwicklungen. Stattdessen beschränkt er sich auf ein einzelnes Psychogramm, eingebettet in die vielschichtige Gedankenwelt darwinistischer Naturbetrachtungen. Das Persönlichkeitsbild, das Judith Schalansky von Inge Lohmark zeichnet, ist gänzlich überzeugend. In einem rasant gepulsten Rhythmus taucht die Autorin dabei in biologische Tiefen ein: Evolutions- und Entwicklungsbiologie, Zoologie und Botanik, Systematik und Systembiologie, Zell- und Molekularbiologie – ihr Kenntnisschatz scheint unerschöpflich. Dieser Roman, der sich jedoch auf ein einziges Psychogramm beschränkt, entlässt den Leser zu früh, vor allem, wenn der Klappentext Inhalte verspricht, die der Plot nicht einlöst. Anders als die Zusammenfassung vorgibt, gerät Inge Lohmarks Weltbild nicht durch einen pädophilen Morgennebel ins Wanken und endet schon gar nicht im Glaubensverlust an den Übervater Charles Darwin. In der Hinsicht sind die literarischen Formationen leider deutlich schlichter geschichtet. Und so reduziert wie das darwinistische Daseinsverständnis endet der Bildungsroman mit den Worten, dass Frau Lohmark am Zaun steht. Was will uns das sagen? Manche Literatur- und Naturgesetze entziehen sich bis zuletzt der Entschlüsselung. Note: 2/3 (ur)<<

6 Gedanken zu “Der Hals der Giraffe – Judith Schalansky

  1. Judith Schalansky hat einen originellen, eigensinnigen und hellwachen Roman geschrieben, mit dem sie sich an die Spitze der literarischen Evolution setzt.

  2. Wir sollten das literarische Kriegsbeil begraben. Häberle und Schrecklich tun gut daran verbal abzurüsten. Wenn nicht, scheut sich Kreidebleich nicht den Hals des Giraffen nochmals vom Schwanz her aufzuzäumen.
    Salut Anton

  3. Insider wissen, dass sich Anton Kreidebleich mindestens einmal weigerte, in die Niederungen der Notengebung hinabzusteigen.
    So gesehen fällt seine verbale Attacke zumindest teilweise auf ihn selbst zurück

    findet
    freundlich grüßend
    KTH

  4. Der Kommentar von ax lässt jegliche Stringenz vermissen und verzichtet selbst auf das angekündigte Bildmaterial. Der Schreiber sollte in Zukunft den Mund nicht zu voll nehmen

    findet
    Anton Schrecklich

    • Lieber Anton,
      ich muss ax in Schutz nehmen. Das angekündigte Bildmaterial hat ax sehr wohl geliefert, der Administrator aber aus Urheberrechtsgründen nicht übernommen.

    • Dass „ax“ gerade der Lehrerin, die er sich nicht für seine Töchter wünscht, eine Einsbiszwei gibt, belegt einmal mehr die Bedeutung des Zufallsgenerators in der Notengebung. Auch „ais“, „uns“ und „urs“ Notengebung hält nicht das, was sie versprechen. Zu loben ist nur der Administrator dieser Website, der Rezensionen übernimmt ohne eine eigentlich dringend angesagte Qualitätszensur auszuüben.

      Salut Anton

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