Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst- Shani Boianjiu

K640_Das VolkKiepenheuer&Witsch 2013,  332 Seiten.

>> Kürzlich wurde in einem Streiflicht der Süddeutschen Zeitung die Buchreihe “Bücher, bei denen man über die ersten 30 Seiten schwer hinauskommt“ propagiert. Ich wollte diesen Roman  vorschlagen, aber wahrscheinlich eignet er sich noch besser für eine Reihe, bei der es um die letzten 30 Seiten geht.
Eine Jugend in Israel. Nach der Lektüre ist man geneigt, sich um diese Jugend zu sorgen. Ich habe beim Israelkenner Henry M. Broder angefragt, ob der Roman übertreibt. Bislang keine Antwort. Yael, Avishag und Lea gehen zusammen zur Schule in einem Dorf an der Grenze zum Libanon. Sie langweilen sich, flüchten sich in imaginäre Welten, Probleme der späten Pubertät, eine Adoleszenz, die normal scheint, im Gegensatz zum Ort und zur Zeit. Der zweijährige Pflichtwehrdienst schließt sich unmittelbar an. Lea an einem Checkpoint, Avisihag in einer Kampfeinheit an der ägyptischen Grenze und Yael als Ausbilderin. Ein Militärdienst mit viel Monotonie, aber auch mit Schikanen und Brutalität. Nach der Rückkehr ins Zivilleben zeigen sich die Folgen. Depressionen, große Anpassungsschwierigkeiten und wenig Perspektiven. Die Sprache ist meist sehr derb, dem Milieu angepasst. Der Originaltitel: „The people of Forever are not afraid“ wurde mit „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ übersetzt. Das wirkt leicht ironisch, oder?  Der spanische Titel lautet übersetzt: „Leute wie wir haben keine Angst“.  Der französische Titel ziemlich frei: „Wir tun so, als wären wir jemand anders“. Der Roman ist kein Lesevergnügen, aber die junge Autorin (geboren 1987) kennt die Welt, über die sie schreibt. Sie war zwei Jahre lang  Waffenausbilderin in der israelischen Armee. Ihren ersten Roman könnte man als ein Antikriegsbuch der etwas anderen Art einstufen. Was wohl ihre Offiziere zu diesem Buch sagen? Note: 3 (ax)<<

>>„… stand vor Avis Auto ein mit bunten Aufklebern übersäter Transporter. Auf einem der Aufkleber stand: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst. Unsere einzige wahre Stütze ist unser Vater im Himmel“. So wahllos die Aufkleber das Lieferwagenheck übersäten, so inhaltsleer das Motto. Den inszenierten Israelis dieses Romans waren Volk und Ewigkeit so bedeutungsvoll wie der Klebstoff auf der Rückseite der Etiketten. Ihr Problem war der fehlende Zusammenhang – „war die Zukunft der Vergangenheit, die sie nicht hatten.“ Warum war am Anfang ihrer Jugend traurige Leere und warum entleerte die Gegenwart auch die Zukunft? In der Mitte war nur der innere und äußere Kriegszustand, der alle Abiturientinnen, also auch sie, in Gewaltfluten ertränkte.
Die drei Klassenkameradinnen Yael, Avishag und Lea quälten sich im israelisch-libanesischen Grenzland durch die Ödnis ihrer letzten Schultage. Selbst am Handymast war kein Empfang. Kein Elternteil wollte wenigstens für eine Nacht die triste Wohnung für eine Spontanparty räumen. Alleinerziehende Mütter zerbrachen an Familiendramen. Der Bruder vollstreckte sein Lebensende nach vollbrachtem Wehrdienst und im Unterricht sorgten lediglich Kriegsanekdoten für Unterhaltung wie die der arabischen Panzerfaustkinder, die sich in ihrem kindlichen Unwissen mit den für sie viel zu großen Waffen zuhauf selbst verbrannten.
Es war der Vorkrieg, der den Seelenunfrieden nährte. Wie alle Mädchen, so wurden auch sie zum Militärdienst zwangsverpflichtet. Avishag fühlte sich immer ungehört und fand erst in der Übungsgaskammer die Freiheit zu reden – wegen der ätzenden Atmosphäre konnte sie hier niemand aufhalten. Sie wurde schwanger. Sie tötete durch Abtreibung. Und während sie das tat, verfolgte sie auf dem Bildschirm zur Überwachung des Grenzgebietes die kleinen Pixel, die ein sudanesisches Mädchen zeigten, wie es sich im Stacheldraht verfing. Auch dieses Mädchen hatte in der Familie getötet. Die eigenen Eltern, um genügend Geld für den Schleußer zusammenzutragen. Alle Formen von Gewalt, auf allen Seiten. Gewalt war so erbarmungslos fantasievoll.
Yael wurde Schießausbilderin mit profundem Detailwissen über Drehmomente und Durchschlagskräfte aller Munitionstypen. Dank ihres geduldigen Einfühlungsvermögens lernte auch der unbegabteste Rekrut Boris das Zielen, das ihm um ein Haar ermöglicht hätte, die kleinen Palästinenserbuben abzuschießen, die mit abenteuerlichem Mut nicht nur Patronenhülsen einsammelten, sondern auch die Sicherheitszäune stahlen. Der Granatwerfer ALGL, mit dem kürzlich hocheffizient eine Schule samt 73 Insassen zum Einsturz gebracht worden war, hinterließ den größten Eindruck. Im Wechsel mit selbst infundierten unterkühlten Blutkonserven waren für die Soldatinnen diese Spielnachmittage die unterhaltsamsten auf dem Stützpunkt.
Lea kontrollierte am Checkpoint täglich hunderte Palästinenser, die als Tagelöhner beim israelischen Siedlungsbau unentbehrlich waren. Es kam wie es kommen musste. Der alte Araber Fadi verzweifelte an den Demütigungen der Kontrollen, opferte sein Brot und dann das Leben eines Grenzsoldaten. Fadi überlebte seine Tat, aber Lea quälte ihn später fast zu Tode.
Dem Vorkrieg folgte der Krieg. Es war vor allem der innere Krieg, der die Seelen pulverisierte. Die Mädchen vagabundierten zwischen Monotonie, Grausamkeiten und instrumentalisierter Sexualität, in der die Rollenverteilung zwischen Täterinnen und Opfer völlig verschwammen. Avishag provozierte durch einen Nacktauftritt zunächst die ägyptischen Grenzsoldaten auf der feindlichen Seite, dann die Admiralität und letztlich die Justiz, die mit Inhaftierung und schließlich Entlassung aus der Armee konterten. Es folgten Monate in tiefster Depression in der Gewissheit, nie wieder zu genesen. Auch Yael wurde die sadistischen Engramme nicht mehr los. Im Wehrdienst war es die Genugtuung bei Scheinhinrichtungen willkürlich aufgegriffener Araber. Danach war es die Brandopferinszenierung des alten Nachbarn, dem die Mädels in absurder Weise den Mord an einem Olivenbaum unterstellten.
Dem Krieg folgte der Nachkrieg. Jahre waren vergangen. Die Frauen trafen sich zu einem Klassentreffen auf dem fast aufgelösten Stützpunkt. Als sie ein beleidigendes Wortgefecht mit jungen Soldaten provozierten, folgten über Tage anhaltende Massenvergewaltigungen. Am Ende töteten sie die Peiniger  – oder auch nicht. Das Buch lässt uns im Unklaren. Boianjiu verwischt in diesem destruktiven Universum die Entwicklungen wie auch die Grenzen zwischen den TäterINNEn, die zu einer geschlechtsegalen Gewissenlosigkeit verkommen.
Ein bemerkenswertes Erstlingswerk einer blutjungen Autorin. Wenn auch nur erzählt im Rahmen von Persönlichkeiten schwingt dennoch eine politische Dimension mit: ein kontaminiertes Gesellschaftssystem, ein die Jugend zermürbendes Israel, ein gewaltverseuchter Naher Osten. Im indirekten Sinne mag man auch Elemente einer Anti-Kriegsliteratur erkennen. Wenn Krieg in die Köpfe gelangt, kommt auch Krieg heraus.
Und dennoch – trotz aller Bedrückung und verschwommener Bezüge, wohnt zahlreichen Passagen eine Leichtigkeit inne, die sich sowohl aus der Prosa wie auch aus den Plots speist: ein Vater versucht mit dem symbolischen Versenken seines Autos ein therapeutisches Schlüsselerlebnis für die seelische Genesung seiner Tochter auszulösen. Oder die Groteske, in der eine 3-Mann-Demonstration um eine gewalttätige Niederschlagung bat, um es wenigsten auf Seite 5 der Lokalzeitung zu schaffen, die kooperationsbereite Grenzwächterin dafür jedoch erst Vorschriften und mit den Dreien die Choreographie einstudieren musste. Leider verabschiedet sich das Werk mit Längen und einem verwaisten Schluss. Note: 2– (ur) <<

>> Das Buch war für mich eine Enttäuschung. Die Erwartungen waren groß: Israel, eine gewaltige geopolitische Konfliktregion, Militärdienst, 3 junge Frauen. Was hätte man nicht alles erzählen können! Dass Militärdienst langweilig sein kann und Krieg verroht- auch in Israel- ist keine überraschende Erkenntnis. Dass dies auch für Frauen zutrifft, schon eher. Zu den 3 Protagonisten in Boianjius Roman entwickelte sich bei mir überhaupt nie so etwas wie Nähe. „Der Leser wird ausgesperrt“, habe ich in einer der wenigen kritischen Rezensionen gelesen. Genau so habe ich es empfunden. Das Schicksal der jungen Frauen lässt einen seltsam kalt. Der in mancher Rezension diesem Werk zugeschrieben Humor – nicht auszumachen. Dafür lange Passagen, die bemüht und angestrengt rätselhaft gehalten werden und die, wenn überhaupt, erst viel später dürftig aufgelöst werden. Note: 4 (ün) <<