Sally-Arno Geiger

Arno Geiger - SallyHanser 2010, 364 Seiten.      

 >>  Sally und Alfred, beide über 50, sind im Wanderurlaub, als sie die Nachricht erreicht, dass zu Hause eingebrochen wurde. Ihre Freunde Erik und Nadja helfen beim Aufräumen des Chaos. Alfred leidet besonders, da auch in sein Innerstes, seine Tagebücher  eingebrochen wurde. Für das Unerwartete ist er überhaupt nicht mehr gerüstet. Sally hingegen peilt ein  neues Leben an, Alfred hängt am alten.  So wird der Einbruch und seine Bewältigung auch zum Menetekel für ihre Beziehung. Alfred, der mit Stützstrümpfen seinem Krampfadernleiden begegnet, erscheint Sally zunehmend als Klotz am Bein. „Alfreds Leistungen im wirklichen Leben waren nicht berühmt“. Sally, die bereits mit 24 über „eine beachtliche sexuelle Reputation“ verfügte, lässt sich auf eine heimliche, heftige Affäre mit Erik ein. Versuchsweise bringt sie sogar das Wort Scheidung ins Spiel. Alfred erscheint ihr „entsetzlich alt, teigig und unwirklich“.  Das Kapitel 10 bringt formal und inhaltlich die Wende. Eruptiv und in Endlos-Sätzen spricht nun Alfred himself über seine Beziehung zu Sally, früher und heute. Alfred zeigt sich als einfühlsamer, zärtlicher und erstaunlich duldsamer Mensch, der Sally bedingungslos liebt, trotz ihrer unzähligen Eskapaden. Sehr berührend, wenn sich Alfred dabei sorgt, dass Sally „da draussen“ sicher nicht nur angenehme Erfahrungen macht. Sie sei das „Beste und Tollste, was ihm je passiert ist“. Nach  diesem Kapitel schwant dem Leser ein böser Verdacht. Könnte es sein, dass der Autor Sally so nahe war, dass er ihren Blick in seinen Schilderungen Alfreds eingenommen hat? Dass der Titel „Alles über Sally“ in die Irre geführt hat, und wir sehr viele mehr  über die Psyche Alfreds erfahren als über Sally, die nun plötzlich doch recht oberflächlich daherkommt? Könnte sein. Alles in allem ein fulminantes Buch, auch wenn der Schluss etwas rätselhaft bleibt. Note: 1– (ün)

>>  Sally, Sally, du verrücktes Huhn ………    (S.288) Sally Fink, dreifache Mutter und Lehrerin an einem Wiener Gymnasium, Anfang 50. Alfred Fink, Museumskurator und ein Mann des Bewahrens, Ende 50. Seit 30 Jahren verheiratet. Sally leidet unter der Behäbigkeit ihres Gatten, der Tagebuch schreibt, von Krampfadern und Gallensteinen geplagt wird. In ihren Augen ein Trottel, an dem sie Symptome körperlichen Verfalls erkennt, denen sie selbst um jeden Preis entgehen möchte. So reagieren sie auch völlig gegensätzlich auf einen Einbruch in ihrer Wohnung. Die robuste Sally packt an und renoviert, Alfred verharrt wie in Schockstarre. Die beiden lieben sich. Alfred bedingungslos und  die lebenslustige Sally eher schwankend. Monotonie und Monogamie sind nicht ihre Sache. Von ihrer Familie würde sie sich aber nie trennen. Ihre Unfähigkeit mit Dienstboten umgehen zu können, macht sie doppelt sympathisch. Finks sind mit Nadja und Eric Aulich befreundet. Nadjas offene Art schüchtert Alfred ein. Die Beziehung zwischen Eric und Sally entsteht so irgendwie. Ein nachdenkliches Fragen in den Augen, ein flüchtiger merkwürdiger Wunsch, den anderen zu küssen. Die Beziehung zu Eric nimmt ein überraschendes Ende, das hier nicht vorweggenommen werden soll. Aulichs durchlaufen die bekannten Scheidungskalamitäten, aber dafür kann Sally eigentlich nichts. sally2Alles über Alfred oder alles über Sally? Bevor das zehnte Kapitel beginnt, erfahren wir nur Negatives über den Alfred aus Schenkenfelden, den unentschlossenen, ängstlichen, triefäugigen,  den hängeschul-trigen Träger von Kompressions-strümpfen. Aber dann hat er das letzte Wort mit seinen Tagebucheinträgen. Ohne Punkt und Komma schreibt er sich nach oben, offenbart sich als der wahre Weise und stiller Held des Romans. Alfredo, wie er sich nennt, ist nicht der tumbe Tor, für den wir und Sally ihn hielten. Er zeigte einfach nicht, wie klug er eigentlich ist. „Jetzt, jetzt kannst du dein Urteil fällen…“ (Seite 351) Im Roman finden sich interessante Aussagen und Schilderungen über den Lehrerberuf, sein gesellschaftliches Ansehen und die Abgründe auswärtiger Kulturarbeit. Sehr amüsant die satirische Schilderung eines Freud-Symposiums in Kairo. Unklar bleibt, warum immer wieder Satzteile kursiv gedruckt werden oder der Geruch von Passionsblumenöl durchs Haus zieht. Wahrscheinlich sind Sally und Alfred ein komplementäres Paar mit guter Prognose. Sicher auch ein Verdienst der lebensklugen Sally, die zu allem eine idealistische und eine realistische Meinung hat: „Sie ist davon überzeugt, dass man im Leben nicht nur EINEN Menschen lieben kann. Die Liebe zu mehreren Menschen erscheint ihr als etwas völlig Normales“. (Seite 126)  Und die realistische Version verweist auf  die vielen Probleme als Folge der idealistischen. So einfach ist das. Insgesamt ein Plädoyer für die Dauer, fürs Weitermachen und Durchwursteln. Oder eher, wie ein anderer schrieb, ein „Trostbuch fürs eigene Mittelmaß?“ Arno Geiger jedenfalls findet das Verhalten des Paares eher „tröstlich und gut. Und man darf annehmen, dass das Buch auch für manche Leser nicht nur literarische Qualität besitzt, sondern mit der eigenen Beziehung, darin erlittenen Wunden, begangenen Fehltritten und uneingelösten Sehnsüchten versöhnt“ (Schwäbisches Tagblatt vom 23. April 2010). Warum Sally nach ihrer Frühpensionierung einen Imbissstand (Foto) aufgemacht hat, konnte niemand aus ihrem Freundeskreis so richtig nachvollziehen. Aber Alfred, der alte Trottel, ließ sie wieder einmal einfach machen. So oft ich nach Wien komme, gehe ich natürlich vorbei. Sie weiß nicht, dass mein Herz für sie glüht. Sie wird es auch nie erfahren.

Maybe you can find the answer
Maybe you can find the place for you
Run, Sally, run, run away.

Note: 1– (ax) >>

<< Ja, Alfred, Dir und dem Leser wäre einiges erspart geblieben, hätte dich  Sallys Botschaft, dass mit einem Gipsbein eindeutig mehr Staat zu machen ist als mit einem Stützstrumpf , frühzeitiger erreicht. So nimmt seinen Lauf, was schon größere Romane ausgezeichnet hat: die eine bricht aus der Ehe aus, der andere in der Ehe ein. „Meine Ehe“, sagst du auf S.356 anerkennend, „die hält etwas aus, interessanterweise“. Nicht jede Ehe endet glücklich mit einem Ein-Bruch, kann ich da nur sagen. Im Kapitel 10 warst du übrigens schon weiter als bei deinem merkwürdigen Sally-Abgesang am Schluss, schade, aber Arno hat mit ungekünstelter Prosa unterm Strich (verzeih mir das Bild) deine Sally hintergründiger alt aussehen lassen als dich, dafür gibt’s Note: 1/2 (ai)>>

<<  An der zwanzigjährigen Ehe von Sally und Alfred nagt der Zahn der Vergänglichkeit. Die begeisterte Hinwendung ist schon lange von dem Kräfte zehrenden Familienalltag, in dem drei jugendliche Kinder ihren egozentrischen Tribut fordern, aufgebraucht. Sally führt den stillen Kampf gegen den körperlichen Verfall, in dem nichts gewonnen, wohl aber viel verloren wird, während Alfred in hypochondrischer Selbstvergessenheit mit dem Sofa verwächst und den Stützstrümpfen huldigt.
Im Laufe eines England Urlaubs erreicht die beiden die Nachricht, dass in ihr Haus eingebrochen wurde, worauf sie sofort nach Wien zurückkehren. Der Einbruch ist auch ein Einbruch in die eheliche Monotonie. Alfred ist wochenlang seelisch zutiefst gelähmt und steht oder besser liegt fassungslos vor dem sinnlosen Schicksalsschlag. Sally dagegen stellt sich entschlossen dem von den Einbrechern angerichtetem Chaos und beginnt augenblicklich und allein das Eigenheim neu zu richten. Die Welten, in denen beide leben und leiden, entfernen sich weiter von einander. Nicht überraschend folgt Sally in dieser Phase der Anziehung von Alfreds Freund Erik. Regelmäßige Hotelbegegnungen steigern die Begierden ohne dass Alfred oder Eriks Frau und Sallys Freundin Nadja davon erfahren. Der sexuelle Überschwang währt jedoch nicht lange, da sich Erik Schundroman-mäßig schon bald einer jungen Russin verschreibt und dafür überraschend nicht nur Sally, sondern auch seine Familie verlässt. Der Anschlag auf das Selbstwertgefühl macht Sally empfänglicher für Alfred mit seiner geduldigen Verbundenheit Sally gegenüber. „Und ohne dass die beiden es merkten, begann draußen Schnee zu fallen, harmlos und naiv suchten sich die Flocken ihren Weg durch den beständig schwankenden Raum“. So enden Buch und Entwicklung ereignisarm und zögernd. Ein verschneiter Schluss.
Alles über Sally. Nach gut 300 Seiten wissen wir, dass Sally die kämpferische Hartnäckigkeit ihrer selbstbewussten, verarmten Mutter erbte; ein Charakterzug, der unter dem Einfluss eines eifersüchtigen, gemeinen Großvaters zu einer tiefen Oppositionsbereitschaft reifte. Sally, die Aufsässige. Später erleben wir Sally als ausgleichende Lehrerin und verständnisvolle Kollegin beim Tode eines Lehrers, der sich in Folge des Vorwurfs der sexuellen Belästigung das Leben nahm. Anders als der Titel nahe legt, ist jedoch das Alles über Sally letztlich dürftig wenig. Genau das zu Wenige spiegelt Alfreds Unwissen über Sally wider. Begründet auch in der Selbstversunkenheit des ermüdeten Ehemannes.
Ein Ausdruck dieses Auf-sich-selbst-gerichtet-sein ist die beeindruckende Sammlung von Tagebücher, die Alfred seit 40 Jahren führt. Mit schier unerschöpflichem Zeitaufwand verewigt er Vergangenheiten und versäumt die Jetzt-Zeit zu atmen bis sein Horizont kaum mehr als die Polster zwischen beiden Sofalehnen überspannt. Ein lebensfernes, lethargisches Fossil, das vom eigenen Gewicht erdrückt wird. Man möchte diesen Kloß unters Sofa rollen.
Kurz vor Schluss des Buches dann der Blick- und Stilwechsel. Nur einen einzigen Satz lang, atemlos und assoziativ über 40 Seiten gebreitet, erleben wir einen Tagebucheintrag, der verwirrt und dennoch tiefgründig erscheint. Der Leser wird vom Gefühl unterwandert, das da heißt: Alles über Alfred. Man ist überrascht und erinnert den Alfred eines früheren Kapitels. Der jüngere Alfred im turbulenten Kairo. Alfred als versierter Doktor der Geschichte. Alfred mit akzentfreiem Arabisch am österreichischen Kulturinstitut. Alfred als Fels in der Brandung. Alfred, der Sally Liebe und Unterkunft gibt. Alfred, der mit seinem Realitätssinn die ertrinkende Sally im arabischen Labyrinth über Wasser hält. So war Alfred und könnte es vielleicht wieder sein.
Der Autor verwöhnt uns durchgehend mit einem satten Sprachfluss. Wortspiele verbreiten ein stimmungsvolles Plätschern. Aber irgendwie erscheint die Durchsichtigkeit des Wassers fast zu normal als dass es eine Geschichte wert wäre. Ehen entstehen, Ehen vergehen oder dursten dahin. Note: 2/3  (ur)