Sieben Jahre- Peter Stamm

Peter Stamm - Sieben Jahre S.Fischer 2009,  298 Seiten.      

>> Die Dreiecksgeschichte „Sieben Jahre“ ist kein klassischer Beziehungskonflikt mit drei Ecken á la mann liebt zwei frauen. Das vermeintliche Dreieck wirkt eher wie zwei horizontale Strecken durch den Mittelpunkt Alex, aus dessen Munde die Geschichte stammt. Oder beziehungsmathematisch noch genauer: es ist die Geschichte um den einen Mittelpunkt, von dem nicht horizontal, sondern senkrecht zueinander zwei weibliche Beziehungs-strecken abzweigen. Sie sind so verschieden, dass sie nicht in einer Ebene denkbar wären. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der vordergründig mit der charmanten, schönen Gattin Sonja perfekt gebettet scheint und sich dennoch obsessiv zu der anteilnahms- und gesichtslosen Aschenputtelfigur Iwona legt. Peter Stamm hat eine Geschichte von Gefühlen, Macht und Entfremdungen geschrieben, die den Menschenverstand provoziert. Vielleicht im verborgenen Alltag gar nicht so selten. Konzeptionell in jedem Falle wertvoll.

Sonja und Alex sind Kommilitonen im Münchner Architekturstudium. Sonja begeistert durch ihren engagierten Einfallsreichtum. Während sie die kontroversen Richtungen geschichtlicher Bauphilosophien aufsaugt, schlafwandelt Alex durch die Nächte des studentischen Olympiadorfes. Während Sonja sich beruflich in Frankreich im Dunstkreis von Corbusier beeinflussen lässt, verliert Alex sich als angestellter Architekt in der monotonen Planung von Treppenhäusern. Während Sonja sich für einen Freund entscheidet, um sich schließlich von ihm wieder zu trennen, weil er sich nicht hinreichend von seinen Eltern emanzipiert, lässt Alex sich von angetrunkenen Freunden mit Iwona verkuppeln, obwohl sie ihn anwidert. Letztlich ist es die Freundin und exaltierte Malerin Antje, die die so verschiedenen Charaktere Sonja und Alex in ihrer Marseiller Wohnung zusammenbringt, woraus zunächst eine 14 jährige Ehe erwächst.

Iwona ist eine illegal nach Deutschland immigrierte Polin; isoliert, zurückgezogen, verschüchtert, arbeitsam, streng gläubig, befremdliche Erscheinung mit deutlichem Hang zur Geschmacklosigkeit. Ihr einziger Kontakt besteht zu einem Bibelkreis, der sie später fallen lassen wird, als sie unverheiratet und ungewollt schwanger wird. Nach der ersten Begegnung zieht es Alex immer wieder zu ihr, obwohl ihr Geruch, ihre ausdauernde Apathie und die konsequente sexuelle Weigerung ihn befremden. Dennoch ist es gerade der sexuelle Widerspruch, wenn er sich als nackter Mann an dieser gesichtslosen Frau in der Strickjacke reibt, der ihn ebenso reizt wie ihre Sprachlosigkeit, die keinerlei Ansprüche an ihn formuliert. Gerade hier tut sich für Alex eine neue Lebensqualität auf: ein Mensch so ganz anders als Sonja, die Alex immer wieder mit Plänen. Erwartungen, Herausforderungen konfrontiert. Iwona dagegen will nichts, fragt nichts, fordert nichts. Und dies obwohl sie Alex als von Gott für sie Auserwählten beschreibt.

Zwischenzeitlich vergeht eine vom Autor nicht vertiefte Zeitspanne von sieben Jahren, in der Alex und Iwona einander aus den Augen verlieren. (Warum diese Phase dem Buch den Titel gab, bleibt im Verborgenen.) Alex und Sonja haben derweil ein erfolgreiches Architekturbüro etabliert, als Alex zu Iwona gerufen wird. Sie hat Gebärmuttergeschwülste, müsste operiert werden und bittet Alex um finanzielle Unterstützung. Augenblicklich erwacht die schon vergessen geglaubte Obsession. Während des jetzt vollzogenen Beischlafs ergießt sich der Samen in das Tumorgewebe und führt zur Schwangerschaft. Im Laufe der kommenden Monate dringt Alex regelmäßig in sie, zwingt ihr Peinlichkeiten auf und entlohnt sie je nach emotionalem Schwierigkeitsgrad in bar. Iwona erscheint wie ein kosmisches Schwarzes Loch, das ihn mit unbändigen Kräften anzieht und nicht mehr freigibt.
Als Alex Sonja in das Schwangerschaftsgeheimnis einweiht, wird einvernehmlich und konspirativ der Plan einer Adoption geboren, da Sonja trotz großer Bemühungen keine Kinder bekommt. Gegen den anfänglichen Widerstand von Iwona kommt das Neugeborene zu den Beiden, wo es dem Leser später als eine etwas kratzbürstige, siebenjährige Sophie begegnet.

Währenddessen greift die Wirtschaftkrise um sich, das gemeinsame Büro geht in die Insolvenz und die Ehe in den Ausnahmezustand. Sonja kehrt zurück nach Frankreich und Alex wird zum Stammgast in besser gemiedenen Spelunken. Sonjas spätere Rückkehr und die Gesundung des gemeinsamen Betriebes kann den familiären Zerfall jedoch nicht mehr aufhalten. Sonja löst sich endgültig von Alex und lässt Sophie bei ihm zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist Iwona aus dem realen Leben von Alex entrückt, auch wenn er in krankhafterweise ihre Spuren sucht.

Hat Peter Stamm in dieser Triole den einzelnen Protagonisten Facetten des Glücks und Unglücks, der Macht und Unfreiheit, der Ich-Stärke und Selbstaufgabe zugewiesen?

Offensichtlich ist es kein Entweder-Oder. Nicht Sonja oder Iwona. Denn beide konkurrieren nicht tatsächlich miteinander. Weder direkt noch in der Gefühlswelt von Alex. Alle drei scheinen in gewisser Weise hilflos mit sich selbst und ihrem Leben, keinem scheint nachhaltig Glück zuteil. Auch die Ich-Stärke hilft Sonja nicht. Im Gegenteil scheint die Stärke direkt gepaart mit Gefühlsarmut, welche Genuss mit Verweilen und Erfüllung verhindern. So bleibt Sonja als Getriebene unfrei. Andererseits schwebt über Alex ständig das Schwert der Selbstaufgabe, das ihn zu einem unbestimmt Getriebenen macht und ihn prompt in eine Schicksalssackgasse treibt. Und Iwona? Sie erscheint geradezu als die Inkarnation von Unglück, Unfreiheit und Selbstaufgabe, etwa wenn sie die für ihre Operation bestimmten Tausende von Euro nicht für sich beansprucht, sondern wie immer nach Polen zur Unterstützung der Verwandtschaft schickt, obwohl die Vettern und Tanten sie aus moralischen Gründen schon längst geächtet haben. Sie hat in ihrer Liebe zu Alex einen festen Bezugspunkt, aber wird ihr das ein Lebenswert? „Sie hatte alles verloren. Was man verlieren konnte, aber sie wusste wozu sie da war. Sie hatte ein Ziel, und wenn es noch so unsinnig war. Vielleicht… war Iwona glücklicher als wir“ (S. 248). Da ihr Gravitationsfeld eine lähmende Macht ausübt, versucht Alex ihre Anziehungskraft durch Erniedrigung zu neutralisieren. Doch muss der Versuch scheitern. Zwischen den beiden Beziehungsachsen rotiert er als leerer Schwerpunkt, so dass sich keine Geometrie der Unschuld und der nachhaltigen Bestimmung ergibt.

Am Ende ergibt sich eine Romangestaltung mit tragischen Lebensverlierern, unter denen Iwona die markanteste Figur darstellt. Peter Stamm hätte man wünschen mögen, die Widersprüchlichkeit und die daraus erwachsende Sucht- und Machtbeziehung des Ich-Erzählers Alex noch überzeugender zu profilieren. Das Buch wäre noch eindrücklicher geworden. Note: 2/3 (ur)<<

>>Die Geschichte vom Scheitern seiner 18jährigen Ehe mit Sonja, die wir als Rückblende aus der Perspektive des Ich-Erzählers Alex erfahren, erhält ihre befremdliche Faszination durch die Figur der Polin Iwona. Was sich aus der von bierseligen Studienfreunden eher als Jux arrangierten Zusammenführung des Architekturstudenten  Alex und Iwona ergibt, entzieht sich auf den ersten Blick („sie war vollkommen reizlos“ S.17) jeder Plausibilität und dennoch offenbart gerade diese Beziehung die Ab- und Hintergründe menschlicher Bedürfnisse. Die meist nur stundenweise Begegnung  von Alex und Iwona (der Schauplatz fast ausschließlich das muffige durch Illustriertenromanzen geschmückte Zimmer der völlig zurückgezogenen Iwona) ist geprägt durch das Nebeneinander von  Obsession und Abscheu, von Geborgenheit und Fremdheit, Gier und Sprachlosigkeit, von Macht und Ohnmacht, von Täter und Opfer. Fast willenlos unterwirft sich Iwona nach anfänglichem Zögern dem immer gleichen Befriedigungsritual („unsere Treffen liefen nach dem immer gleichen Muster ab und dauerten selten länger als eine Stunde) ohne auch nur den Hauch eines Anspruchs oder einer Forderung gegenüber Alex zu erheben. Für Iwona, durch Herkunft, illegalen Aufenthalt, religiöse katholische Erbauungsliteratur und triviale Glücksverheißung gleichermaßen begrenzt wie verblendet, beginnt mit der „Erscheinung“ von Alex die „bedingungslose Liebe“. Für Alex dagegen wird das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung zur „Hörigkeit“ (121) zu einer Art Parallelwelt, in der sich anfängliche Macht über Iwona (Missbrauch?) in Ohnmacht verkehrt. Verfügungsgewalt ganz anderer Art gewinnt Alex erst wieder am Ende der Beziehung zu Iwona. Iwona wird im 7. Jahr (!!) der Beziehung zu Alex schwanger, ein Umstand der der bisher kinderlosen Ehe von Alex und Sonja eine Adoptiv-Tochter namens Sophie beschert. Dass dieser unerwarteten Familienplanung, die in seltsam nüchterner Übereinkunft vollzogen wird, kein dauerhaftes Glück beschieden ist, zeigt sich Jahre später in dem Augenblick als die Wohlstandsfassade der dynamischen Architekturfamilie durch Auftragseinbrüche Risse bekommt. Während Alex dem drohenden Konkurs passiv durch Anzeichen der Verwahrlosung begegnet, knüpft Sonja ohne Rücksicht auf die Familie in Marseille an frühere Architekturarbeiten an.  Auch diese 2. Marseiller Episode erinnert daran, dass schon das Fundament der Beziehung von Alex und Sonja seit der 1. Marseiller Begegnung wenig stabil war. Sonjas durch das gutbürgerlich-wertkonservative Elternhaus (großartig Alex’ Beschreibung der Elternrituale) geprägter unbändiger Ehrgeiz sich beruflich zu verwirklichen, der Vorrang des Äußerlichen vor dem Innerlichen, ihre sexuelle Zurückhaltung, ihr Pragmatismus bei der Lebensplanung (Alex verordnete Fruchtbarkeitsfahrten von Chemnitz nach München), all dies liefert schon früh Motive für Alex wiederkehrende Ausbrüche in eine Parallelwelt vermeintlicher Freiheit, auch wenn sie wie im Falle Iwona wieder Züge des Zwanghaften annimmt. Das Scheitern in Beziehungen bedeutet für Alex aber auch das Scheitern an sich selbst, weil weder Lebens- noch Architekturplan eine persönliche Linie aufweisen und so bleibt seine Gewissheit „dass Iwonas Leben – ärmlich und anstrengend und entbehrungsreich – glücklicher gewesen war als meines“ (281) letztendlich eine romantische Verhöhnung der Iwona-Wirklichkeit.
Gerade weil die Alex – Iwona Beziehung bis zum Schluss nicht nur dem Leser sondern auch den Akteuren fremd bleibt, fesselt sie. Sie macht den Roman, die zum Teil sehr schrägen Nebenfiguren (Rüdiger, Tanja, Alice ec.) und Nebenschauplätzchen (Architekturgedöns) sind das literarische Lametta.. Die Sprache, die der Autor seinem Ich-Erzähler leiht, ist glasklar : anders als die Iwona-Geschichte. Note: 2 (ai)<<

>>Warum verfällt der Ich-Erzähler Alex, der mit der schönen, manchmal etwas spröden Sonja aus gutem Hause verheiratet ist, ausgerechnet der konturlosen, gänzlich unattraktiven Polin Iwona? Die asymmetrische, bedingungslose Liebe Iwonas zu Alex und die offensichtlich daraus resultierende Macht über Alex , das ist das zentrale Thema Stamms in diesem Buch. „Es ist schlimmer nicht geliebt zu werden, als nicht zu lieben“, lässt er Alex einmal sagen, als dieser mit dem Vorwurf seiner Freundin Antje konfrontiert wird, Iwona auszunutzen. Oder : „Ein Mensch der liebt, hat immer schon gewonnen“ . Eine These, die auf Iwona gemünzt, jedoch im Roman nicht wirklich bestätigt wird.

Die zeitversetzte Rahmenhandlung, die gutbürgerliche Welt am Starnberger See, das Studentenleben in München, die ästhetischen Fragen der Architektur, all dies gelingt Stamm vorzüglich und handwerklich gekonnt. Auch der Gefühlswelt von Alex lässt uns Peter Stamm sehr nahe kommen. Das ist sehr gut gelungen. Bei Sonja erging es mir nicht ganz so. Vielleicht liegt das daran, dass wir Sonja ja nur aus den Erzählungen von Alex kennen lernen. Oder der Autor hat ihr schlichtweg „zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt“, wie Peter Stamm auf einer Lesung nach einer Publikumsfrage selbstkritisch anmerkte. Note: 2+ (ün)<<

>> Lieber Alexander,
was wohl aus Ihnen geworden ist?
Mit all Ihrem übermächtigen Fernweh, das Sie auf der letzten Seite überkommt, Ihrem Wunsch, wegzugehen und nie mehr zurückzukehren, irgendwo neu anzufangen, in Berlin oder in Österreich oder in der Schweiz. Wo Sie wohl gelandet sind?
Glückwunsch, falls Sie sich für die Schweiz entschieden haben. Was soll ich sagen zu allem was Sie auf 298 Seiten mitgemacht, erlebt, gelebt und verlebt haben. Vorneweg:  ich glaube nicht, dass Sie ein Schwein sind, wie Antje sagt. Ganz sicher nicht. Dafür sind Sie zu sensibel, zu menschlich. Antje meint, das sei keine schöne Geschichte. Sicher, aber dafür ist sie interessant.
Das Zerrissensein zwischen zwei völlig gegensätzlichen Frauen. Nehme ich Ihnen ab. Aber diese Abhängigkeit von Iwona, diese Obsession, schwer fassbar. Haben Sie sich  nie gefragt, ob nicht ein kleiner Sadist in Ihnen steckt? Oder gibt es Magnetismus zwischen Menschen, der stärker ist als wir? Ihr Schöpfer Peter Stamm bleibt ein großer Andeuter, wenn er von Ihnen schreibt: „Dann sagte ich ihr, was ich mir ausgedacht hatte, und wir gingen ins Schlaf- oder Wohnzimmer oder ins Bad.“ Ein Therapeut würde vielleicht sagen, dass Sie daran arbeiten sollten, aber warum eigentlich. Bleiben Sie wie Sie sind, wichtig ist nur, dass Sie einen komplementären Part finden. Nach und nach sind Sie mir sogar sympathisch geworden. Sie  genießen es insgeheim, keine Verantwortung zu haben und kein Ziel (Seite 110). Und auch dann, wenn Sie wohlwissentlich einen Fehler machen (Seite 161), das zeigt doch Größe. Eigentlich sind Sie ja ein Glückspilz. Eine Frau wie Sonja kennen zu lernen,  um die Sie die ganze Welt beneidet. Aber natürlich, ein Melancholiker wie Sie und ein Tatmensch wie Sonja, da wird es immer knirschen. Trotzdem haben sie es  ja 18 Jahre zusammen ausgehalten. Zurück zur Eingangsfrage, was aus Ihnen wohl geworden ist. Mit einem Buch wie „Die nächsten sieben Jahre“ könnte Peter Stamm die Frage leicht beantworten. Aber dieses Buch wird wohl ungeschrieben bleiben und so werden wir es nie erfahren, weil auch meine Zeilen Sie wahrscheinlich nie erreichen werden.

Trotzdem alle guten jahreszeitlichen Wünsche, ein glückliches Jahr 2010 (ja Glück).
Ihr Milian
Note: 1/2 (ax)<<