Gomorrha- Roberto Saviano

Roberto Saviano - GomorrhaHanser 2007 ,  368 Seiten.      

>> Roberto Saviano legt die Architektur der Gewalt der Camorra offen, entreißt die Täte ihrer Anonymität. Pasolinis „Ich weiß. Ich weiß die Namen“ fügt er sein „und ich habe Beweise“ hinzu.  Besonders eindringlich gelungen ist das Kapitel „Zement“ . Kampanien, das Territorium der Camorra, bekommt eine andere Topographie, eine Topographie der unvorstellbaren Grausamkeit und der Herrschaft der Berretas und Kalaschnikows, die einen erschaudern lässt. Ob Bauindustrie, Textilhandel, Müllgeschäft oder Drogen: die Camorra hat alles fest im Griff. Es fällt manchmal schwer, weiter zu lesen in diesem Buch. Zu brutal sind die Details der lapidar geschilderten mörderischen Akte und Rachakte der Clans. Trotzdem ein mutiges und notwendiges Buch mit literarischen Qualitäten. Ob dem literarischen Erfolg politische Konsequenzen folgen, bleibt abzuwarten.
Note: 2+ (ün)<<

>>Als Sohn des Umlandes von Neapel spricht in Roberto Saviano der Journalist, den mit seiner Heimat Heimatlosigkeit verbindet. Eine Heimat, die schon seit zwei Jahrhunderten ein Gomorrha mit besonders brutaler Niederträchtigkeit von geradezu biblischen Ausmaßen ist. Zutiefst erschüttert und gleichzeitig doch tiefgründig, teils mit sachlicher Geradlinigkeit und oder auch mit poetisch gefassten Emotionen beleuchtet Saviano diesen süditalienischen Zweig des organisierten Verbrechens. Die Camorra –  blutrünstiger als die Mafia und geschäftstüchtiger als die Costa Nostra. Eindrücklich beschreibt er die unglaubliche Evolution, die immer wieder neue Varianten krimineller Mutanten hervorbringt. Wie Mutationen des Systems neue Gesetzmäßigkeiten der Berufskriminalität generieren, wie Familienclans um Ressourcen ringen, um kriminelle Fortpflanzung ringen und durch Vernichtung konkurrierender Spezies die Vorherrschaft anstreben. Ein Darwinismus der Unmenschlichkeit.

Mit ausgewählten Detailansichten führt Saviano durch das Reich der Camorra. Neapel als das größte Tor Europas für illegale Importe aus China. Im Umland höchst produktive chinesische Kleinbetriebe, die unter selbstmörderischen Bedingungen international führende Modehäuser beliefern. Die Wirtschaftphilosophie beim Wechsel vom Heroinhandel mit gesellschaftlichen Außenseitern hin zur Livestyle-Droge Kokain etablierter Gesellschaftsschichten. Öffentliche Testzeremonien mit Todesfolge zur Profilierung neuer Designerdrogen. Jugendliche als die neue Generation besonders enthemmter Gewalttäter. Die überraschende Moral und Bürgernähe der Camorra in Sonderfällen. Der 3600 Tote fordernde Bandenkrieg und die für Schlagzeilen dankbare Presselandschaft. Für Jugendliche psychologisches Training zur Furchtlosigkeit mittels Schussübungen auf deren kugelsichere Westen. Die zwanzig brutalsten Formen des Mordens und deren rituelle Botschaften: die Symbolkraft von mit der Flex abgetrennten Köpfen und in Brunnenschächten gesprengten Leichen. Frauen der Camorra, die anders als ihre Männer nie als Kronzeugen auftreten. Die Wunder der Kalaschnikow und dass sie mehr Menschleben forderte als alle Atombomben zusammen. Gewalt als vermeintlich altruistische Aufopferung des Täters – quasi eine zutiefst christliche Geste. Zement, die Bauwirtschaft, Abfall und Entsorgung als ureigenste Stützen des italienischen Verbrechens. Pervertiertes Wertesystem und Ehrverletzung als grundlegende Kraft krimineller Entartung.

Der Leser lernt viel und hat doch schon so viel gewusst, was er gerne verdrängen würde. Und dann die schleichende Einsicht, dass dies ein Teil des modernen Italien ist, ein Land mitten im zivilisierten Europa. Ein Mittelalter mitten in der Jetztzeit. Und vermutlich gieren Köpfe der Hydra schon lange auch in unserer Nachbarschaft. Nach der Lektüre wäre alles andere verwunderlich. Ein ziemlich gutes Buch über ein hässliches Thema.
Note: 2 – (ur)<<

>>Wenn Udo Lindenberg  den Mafioso Jonny Controlleti besingt, der einen Streifenanzug trägt und „Alles unter Kontrolle“ hat, möchte man gerne mitsingen. Das vergeht einem aber schnell, wenn man mit Roberto Saviano die „Reise in das Reich der Comorra“ (Untertitel seines Buches) antritt, einem Reich, wo besagte kriminelle Vereinigung alles unter Kontrolle hat. Oder fast alles, viel zu viel auf  jeden Fall. Neapel ist der Hafen dieses Reiches, die berühmte Bucht, eine Kloake. Schon auf den ersten Seiten fallen Leichen  aus Containern. Nach einem so starken Einstieg erregt es dann schon fast nicht mehr, dass 60% der Einfuhren an der Zollkontrolle vorbeigehen. Viele Namen, viele Morde, viel Böses. Wird das Böse omnipräsent und repetitiv, wirkt es ermüdend. Wie das Gute ja auch. Manches wird erzählt, was eher degoutant ist. Das langsame Verrecken von Mordopfern oder postmortale Erektionen.

Überflüssiges hat sich eingeschlichen. Wozu ausführlich die Vor- und Nachteile einer Kalaschnikow erörtern? Die meisten mitteleuropäischen Leser/innen werden sich nie eine anschaffen können/wollen. Nach und nach versteht man, warum die desolaten sozialen Rahmenbedingungen die  Jobs bei der Camorra attraktiv machen. Man kann auch den Polizisten verstehen, der sich fragt: “Was geht uns das an? Lassen wir sie doch einfach, die sollen sich doch gegenseitig fertig machen.“ Die Sprache Savianos ist gut verständlich, die Übersetzung gelungen, die Metaphern gelegentlich etwas kühn. So werden etwa die Hafenbecken mit den Zitzen eines Muttertieres, der Hafen selbst mit einem Anus verglichen.
Nach zweihundert Seiten ein erstes Stoßgebet: „Herr, lass die Plage an diesem unserem Lande vorübergehen.“   Wenn man in das Buch „Mafialand Deutschland“ von Jürgen Roth schaut, muss man leider befürchten, dass die Bitte vergeblich war. Roberto Saviano muss wegen dieses Buches um sein Leben fürchten. Die Verbrecher der Camorra zwingen ihn sich zu verstecken. Ein Skandal. Ich bewundere den jungen Mann für seinen Mut, er hat meine vollste Hochachtung. Am 21. März 2009 demonstrierten rund 150 000 Menschen in Neapel gegen die Cosa Nostra, die `Ndrangheta, die Camorra. Zum ersten Mal seit dem Erscheinen seines Buches vor drei Jahren trat Saviano öffentlich in Neapel auf und verlas die Namen von Mafia-Opfern. Trotz dieser beeindruckenden Demonstration meint Saviano, dass die Mehrheit der Italiener die Augen vor der ungebrochenen Macht der Mafia verschließe (taz vom 23. März 2009). Ob das bei uns in Deutschland so viel anders wäre? Note: 2 – (ax)<<

>> Kein Buch fürs Feuilleton, kein Buch für Literaturkritik. Was sich im südlichen Vorhof der vatikanischen Moral- und Tugendwächter, eingebettet in die malerischen Tourismusoasen am Golfo di Napoli und an der Costiera Amalfitana e Sorrentina abspielt, das ist ein alltäglicher unerklärter Krieg zwischen atavistischen Familienclans, die mit der zunehmenden Akzeptanz von „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung anderen Formen entstaatlichter Gewalt in afrikanischen und asiatischen „failed states“ in Nichts nachstehen. Ob in der Gestalt der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia, der Ndrangeta, der Camorra – das Spinnenetz des organisierten Verbrechens ist in (Teilen?) Europas allgegenwärtig. „Ich weiß. Ich weiß die Namen…“, schrieb Pier Paolo Pasolini in einem berühmt gewordenen Artikel des Mailänder Corriere della Sera im November 1974. Neunmal leitete der Schriftsteller, Regisseur und Intellektuelle darin seine Sätze mit der Formel „Ich weiß…“ ein. Sie war eine Anspielung auf Zusammenhänge zwischen Politik und Verbrechen, auf drohende Putschversuche und Attentate in Italien. Namen nannte der umstrittene Schriftsteller nicht: „Mir fehlen die Beweise.“ Ein Jahr später war Pasolini tot. Brutal zugerichtet wurde der 53-Jährige im November 1975 unweit der Küste im römischen Vorort Ostia aufgefunden. Savianos lebensgefährliche Recherche schließt Pasolinis Lücke: “Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht. Den Geruch von Sieg und Erfolg. Ich weiß, woher das Geld kommt. Ich weiß“.
Saviano weiß es nicht nur von Don Peppino Diana. Ich weiß es jetzt auch. Mein Geruch von Zement und Haut Couture hat sich sensibilisiert, doch  das bleibt folgenlos. Ein Hauch von Hoffnung dagegen die Straße und nicht das Lesezimmer: Die in Anwesenheit Savianos am 21. März veranstaltete Anti-Mafia-Demonstration in Neapel.
Keine Note (ich ziehe daher meine Note zurück). Ich bin glücklich, dass unser LQ ohne “Capi dei capi“ (Bosse der Bosse) auskommt.<<