Drachenläufer – Khaled Hosseini

DrachenläuferBerliner Taschenbuch Verlag 2003,  376 Seiten.

>> In der Tradition großartiger orientalischer Geschich-tenerzähler entfaltet der Ich-Erzähler  seine anrührende Vater-Söhne Geschichte, die zeigt, wie stark Menschen durch kulturelle Bindungen geprägt, vor allem beengt, werden. Neben der tragischen Verstrickung Amirs und Babas in Schuld und Sühne vermittelt dieses Familienepos auch Einblicke in die Geschichte Afgha-nistans vor, während und nach der Herrschaft der Taliban, die mehr über die Hinter- und Abgründe dieser Gesellschaft offenbaren als die mediale Informations- und Nachrichtenschwemme vom Hindukusch, wo angeblich unsere Demokratie verteidigt wird. Dass Khaled Hosseini vor allem mit dem Show-down Auftritt des sonnenbebrillten Schlächters von Kabul Assef (Zugeständnis an cineastische „Bad-man-Dramaturgie“) und mit der abschließenden Adoptionsgeschichte zuweilen erzählerisch und inhaltlich ins Straucheln gerät (Gefühlskitsch), sei ihm vor allem deshalb verziehen, weil der offene Drachenläuferschluss zum Höhenflug des Romananfangs zurückfindet. Note : 1/2 (ai) <<

>> Khaled Hosseini gelingt es in seinem brilliant erzählten Drachenläufer vom ersten Augenblick an, den Leser für seine mit viel Liebe und psychologischem Einfühlungs-vermögen gestalteten Figuren zu interessieren und ihn fesseln. Für den 12- jährigen Amir im Kabul der 70-iger Jahre, der uns seine bewegende Geschichte um Freundschaft und Verrat, um Liebe und Zurückweisung, um Schuld und Sühne  rückblickend als Erwachsener erzählt. Für Baba, seinen charismatischen (Über-)Vater, um dessen Liebe und Anerkennung er Zeit seines Lebens kämpft. Für Ali und dessen Sohn Hassan,  Diener des Hauses, aber schicksalhaft mit Baba verbunden. Amir und Hassan, gleichaltrig, wachsen gemeinsam auf. Sie verbindet eine innige, wenn doch auch asymmetrische,  von absoluter Loyalität auf der einen und von Rivalität auf der anderen Seite geprägte Beziehung.
Wie dieses Beziehungsgeflecht auf dem Hintergrund des Schicksals Afghanistans vor und während der Taliban Herrschaft  entwickelt wird, ist schon meisterhaft und sehr spannend. Da verzeiht man auch schon mal die eine oder andere Annäherung an die Grenze zum Melodram. Note: 1/2 (ün) <<

>> Sieben Millionen verkaufte Exemplare, spricht das nun eher für oder eher gegen ein Buch? Natürlich, Verkaufszahlen sind primär kein Kriterium literarischer Wertung, aber sie lassen mich auch nicht ganz unbeeindruckt schon bevor ich mit dem Lesen beginne.
Dann geht alles ganz schnell. Schon drei Sätze auf der ersten Seite des Buches, eine fast programmatische Erklärung, nehmen mich für den Autor ein: „Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor.“
Keine Inhaltsangabe – nur so viel: Kahled Hosseini hat viel in sein Buch gepackt. Leben und Sterben, Treue und Verrat, Zärtliches und Grausames und vom letzteren eine spürbare Prise zuviel. Ohne in die Ethnokitschfalle zu tappen, erzählt  uns der Autor viel Interessantes über Afghanistan und seine Menschen. Dabei wird deutlich, dass das Land  und seine Bewohner schon bessere Zeiten gesehen haben. Neu war für mich die problematische Beziehung der unterschiedlichen Ethnien. Hierzulande würde man von Rassismus sprechen. Besonders gelungen und gut ausgearbeitet scheint mir der erste Teil zu sein, in dem die komplizierte Beziehung der beiden „Milchbrüder“ (eine Amme, ein Vater) Amir und Hassan dargestellt wird. Bewegend die unglückliche Vater-Sohn-Beziehung. Hassan im immerwährenden Bemühen um die Zuwendung des Vaters, dem der Sohn alles andere unterordnet. So wird er schuldig. Aber es fehlt auch nicht die frohe Botschaft: „Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen.“ Amir versucht es. Erfolgreich? Problematisch scheint es mir, den Talibanismus als individual-psychologisches Problem sadistisch veranlagter Menschen zu zeichnen, wie dies im Fall von Assef geschieht.
Anfang 2008 wird der Film in die Kinos kommen. Das überrascht nicht. Man darf gespannt sein,  ob das Drehbuch Vergewaltigung, Steinigung und ähnliches in den Mittelpunkt stellen wird. Aber schrieb nicht kürzlich ein bekannter Filmkritiker, schlechte Literaturverfilmungen seien vielleicht oft die besten. Na dann. Note: 1/2 (ax) <<

>>Fast 40 Jahre blickt der Ich-Erzähler in die Vergangenheit zurück, findet und verliert sich selbst in seelischen Strudeln, auf ethnisch-religiösen Sandbänken und in politisch-fundamentalistischen Schlagwettern, die seine Lebensbarkasse von Afghanistan nach Amerika abtreiben lassen. Es ist die fesselnde Geschichte eines kleinen Jungen, der seinen besten Kameraden verrät, jahrzehntelang Schuld verdrängt, bereut und als Erwachsener dramatische Wiedergutmachung wider die Vernunft begeht. Es ist die Geschichte eines weichen Buben, der um die Anerkennung eines harten Vaters buhlt. Es ist auch die Geschichte eines Landes, das beim Sprint durch die politischen Zeitalter zerfetzt wird und letztlich die Geschichte traditioneller Werte, deren Sinnhaftigkeit heute befremdet.
Amir ist der Sohn eines wohlhabenden, lebenshungrigen Witwers im Kabul der siebziger Jahre. Nachdem die bewunderte Mutter verstarb, leben Vater Baba und Sohn allein mit dem Diener Ali und dessen Sohn Hassan auf dem innerstädtischen Anwesen. So wie Baba mit Hassan aufwuchs, nachdem sein Vater den verwaisten Sohn einer verarmten Hazara-Familie aufnahm, so wächst auch Amir mit dem mutterlosen Hassan auf. Engste Kameradschaft wird sie verbinden, auch wenn Amirs intuitive Zugehörigkeit zu den elitären sunnitischen Paschtunen und Hassans Wurzeln bei den verachteten schiitischen Hazara sie nie gleichwertige Freunde werden lässt. Diener und Herr sind ein ungleiches Paar: während der eine die Schule besucht, wäscht der andere ihm die Wäsche. Und dennoch sind sie ein Paar, welches Blutsbrüdern gleich, unzertrennlich durch die Kindheit tobt.

Die schicksalsträchtige Wende kommt mit dem Tag des Drachenkampfs. Alljährlich findet ein Wettkampf mit selbstgebauten Drachen statt, bei dem es Ziel ist, mit Hilfe Glassplitter-besetzter Drachenschnüre benachbarte Drachenschnüre in der Luft zu zerschneiden. Wer die abstürzenden Drachen findet, darf sie als Trophäe behalten. Der größte Triumph gehört dem Sieger am Himmel und dem Finder des letzten abstürzenden Drachen. Dieses Jahr gelingt es tatsächlich dem 13-jährigen Amir den Sieg nach Hause zu fliegen, während Hassan sogar noch den abstürzenden Konkurrenten erläuft. Hassan ist der unerreichte Drachenläufer, der einem unbekannten Instinkt folgend die Absturzstelle im Gassengeflecht Kabuls im voraus erahnt. Auf dem Heimweg passiert die schicksalhafte Tragödie, als der unerschrockene Hassan von einer erbarmungslosen Straßengang gequält und vergewaltigt wird. Amir stößt zufällig zu der Szene, wähnt sich unbeobachtet und hilft aus Angst seinem Kameraden nicht. Angefüllt von bedingungsloser Pflichterfüllung überlässt Hassan später den Beutedrachen Amir, wodurch Amir als Doppelsieger endlich die schmerzlich entbehrte Anerkennung des Vaters erfährt.

Zerfressen von Selbstvorwürfen, aber gefangen im inneren Schuldkokon, betreibt Amir die Vertreibung von Hassan mit der Erwartung dem täglichen Anblick seiner Schuld zu entkommen. Amir täuscht schließlich einen Diebstahl vor. Aus unerschütterlicher Loyalität gesteht Hassan, Geburtstagsgeschenke von Amir gestohlen zu haben, obwohl Amir es selbst war, der sie unter Hassans Bett versteckte. In der Folge verlassen Vater Ali und sein Sohn für immer das Haus, ohne dass es je zu einer klärenden Aussprache kommen wird. Ein kleiner Verrat nährt den Boden für den großen, der ihre Freundschaft für immer zerbrechen wird. Auch das Land zerbricht, die Taliban ergreifen die Macht und rufen zur Verurteilung Ungläubiger auf. Für den gottlosen Baba bleibt nur die Flucht ins benachbarte Pakistan. In einer halsbrecherischen, mehrmonatigen Odyssee geleitet und verraten von Menschenschmugglern gelangen Vater und Sohn unter quälenden Bedingungen schließlich in die USA. Selbstmorde, Verrat und Verzweiflung säumen den Weg.

Während das schnelllebige, vergangenheitslose Amerika für Amir den Raum des Vergessens bietet, findet der in der Heimat lebenshungrige Baba keinen Boden unter den Füssen, auch wenn er sich nicht zu schade ist, als Automechaniker einen mageren Lebensunterhalt zu verdienen. Nach wenigen Jahren schon wird er einem Tumor erliegen, dessen Behandlung sein Stolz nicht zulässt. Amir – inzwischen mit einer Afghanin kinderlos verheiratet – ist nach einem Creative Writing Studium zum Schriftsteller avanciert. Zwanzig Jahre nach der Flucht zerrt ihn ein Anruf eines alten Freundes in die Vergangenheit zurück: es sei der letzte Moment, eine alte Schuld zu sühnen.

Amir erfährt, dass Hassan, gezeugt von seinem Vater mit der Frau von Hassans Vater, sein Halbbruder war. Zwei Jahrzehnte später verheiratet sich Hassan. Das Paar bekommt einen Sohn Suhrab, der auch verwaist als beide Eltern als minderwertig behandelte Harzara von den Taliban erschossen werden. Der alte Freund drängt nun Amir, die alte auch ihm bekannte Schuld mit der Rettung Suhrabs wieder gut zu machen. Trotz Entsetzen über die Ruchlosigkeit seines geachteten Vaters, überwältigt ihn schließlich die alte Schuld und neu erkannte Blutsverbundenheit, so dass er in das mörderische Afghanistan aufbricht. Es folgt eine beispiellose, fast surrealistische Höllenfahrt begleitet von Lynchjustiz, Steinigungen, Kindesmisshandlungen, Perversionen, grauenhaftem Elend und religiös-fanatischen Entartungen. Amir befreit Suhrab schließlich aus den Fängen eben jenes Assefs, der bereits Hassan vergewaltigte, wobei Amir quasi als Sühneleistung schwere Verletzungen provoziert und erleidet. Letztlich gelingt die gemeinsame Flucht ins pakistanische Ausland. Als die Einreise in die USA zum kafkaesken, hoffnungslosen Akt zu werden droht, versucht Suhrab sich das Leben zu nehmen. Er wird gerettet, man gibt ihm das Leben zurück, das er jedoch nicht wirklich annimmt. In den USA angekommen wird das kinderlose Paar endlich zur Familie, doch hält das afghanische Trauma Suhrab in einer autistischen Umklammerung. Erst als Amir Suhrab zu einem Drachenkampf mitnimmt, wird ein Lächeln sichtbar.

Ein geradliniger Erzählstrang zieht sich durch den Roman, der auf parallele und invertierte Handlungsstränge weitgehend verzichtet, so wie auch die Sprache eher schlicht und schnörkellos die Geschehnisse an einander reiht. Der Plot wirkt stellenweise lehrbuchhaft konstruiert, zu viele Schleifen schließen sich vermeintlich zufällig. So kehrt die leichtlebige Mutter von Hassan, die ihren Sohn nie angenommen hatte, als alte, reumütige Frau eben rechtzeitig zurück, um Hassans Sohn Suhrab mit auf die Welt zu bringen. So vergeht sich der zum offiziellen Henker Kabuls aufgestiegene Assef, der schon Hassan vergewaltigte auch an seinem Sohn Suhrab. So schießt Suhrab mit einer Schleuder Assef treffsicher eine Auge aus um damit sich und Amir aus seinen Mörderklauen zu befreien wie auch Hassan schon Assef mit einer Schleuder bedrohte. So finden der Ersatzvater Amir und Suhrab durch einen Drachenkampfsieg zueinander, wie auch Amir das Herz seines Vaters durch einen Drachenkampsieg für sich einnehmen konnte. Letztlich gibt es befremdliche Ramboszenen, die eher für das Medium Kinofilm geschrieben scheinen wie etwa die Knochenbrecher-Sonate, die Assefs Schlagring auf Amirs Skelettapparat intoniert.

Um so erstaunlicher, dass trotz dieser Dunkelschatten der Roman so licht und ergreifend wirkt, dass man mit einem geradezu interkulturellen Angefülltsein und literarisch bereichert die letzte Buchseite schließt. Note: 2+(ur)<<