Ins Offene – Karl-Heinz Ott

K640_Ins_offene_geschnittenResidenz Verlag 1999, 139 Seiten.

>> Ott fokussiert in seinem Werk auf eine parasitäre familiäre Symbiose, in der eine Mutter dem Sohn die Zuwendung förmlich aussagt. Wir folgen den Aufzeichnungen des Sohnes, dessen Seele durch die Gefühlsgewalten zerfurcht wurde und vielleicht doch die Kraft bewahrt, sich ins Offene zu öffnen.

Mutter Hilde lebt in einem oberschwäbischen Dorf, geprägt von Kleingeist, religiöser Kompromisslosigkeit und familiärer Enge. Als 40-Jährige noch immer ledig, beginnt sie eine lebensfrohe Liaison mit einem Familienvater, wird schwanger, treibt mit Stricknadeln ab und wird öffentlich geächtet. Mit einer zweiten Schwangerschaft versucht sie den Textilhändler zu binden. Dieser verlässt und stürzt sie in einen seelischen Abgrund, aus dem sie nie wieder entkommt. Wegen des unehelichen Kindes (der Ich-Erzähler) wird sie vom größten Teil der Familie verstoßen. Fortan wächst der Junge isoliert mit Mutter und Großmutter auf.

So wie die Großmutter noch als 80-Jährige ihre Tochter Hilde anzuketten und schmerzhaft zu erniedrigen vermochte, so setzt Hilde mit ihrem Sohn die emotionale Kasernierung fort. Während die Großmutter das Ende ihres gequälten und quälenden Daseins jedoch in einer geschlossenen Anstalt verbrachte, bleibt der epileptischen Seele ihrer Tochter die Freiheit, das Gemüt ihres Sohnes im dörflichen Habitat geistiger Verseuchung zu vergiften. Nach dem Tod der Großmutter renoviert Hilde in einem vergeblichen Emanzipationsausbruch ihr gemeinsames Haus, um darauf von Schuldgefühlen verschüttet zu werden. Hilde definiert ihr Seelenheil allein durch ihren Sohn, den sie wie ein eigenes Organ inkorporiert. Seine Versuche, als Heranwachsender dem Nest zu entfliehen, empfindet sie als Lebensbedrohung. Schon dem Kind gegenüber arbeitet sie mit vorauseilenden Schuldzuweisungen, die keine seelischen Grenzen kennen. Die Formen der negativen Bindungen spiegeln die örtlichen und ihre religiösen Überzeugungen wider, die von einem rächenden, egoistischen Gott dominiert werden.

Selbst als die krebskranke Hilde im Angesicht ihres Todes im Hospital ihren Sohn empfängt, verfängt sie sich in den hergebrachten, quälenden Ritualen des Vorwurfs und strafenden Schweigens. Erst im letzten Moment äußert die Mutter die lapidare Selbstkritik „ich, … ein … Lästermaul“. Die Empfindungen des Sohnes lassen vermuten, dass dieses Wort die maso-sadistischen Ketten dieser Zweierbeziehung, in der der Junge nicht nur Sohn war, sondern auch als ausdauernder Ersatz-Gatte diente, sprengen könnten.

Zwischenzeitlich besucht er die bedeutungsarmen Stätten seiner ihm fremd gewordenen Heimat. Auch wenn sie zunächst abweisend wirken, entdeckt er überraschend Requisiten, die Licht-erfüllt sind. Vielleicht wird die triste Vergangenheit sich erhellen. Als Schüler hatte er hier Albert Camus´ Verfilmung „Der Fremde“ gesehen und sich vorgenommen, sich Gelassenheit zu verordnen, auch wenn er wie der Fremde in der nordafrikanischen Wüste zum Tode verurteilt werden sollte, weil er am Grab seiner Mutter keine Anteilnahme zeigte.

Der Plot ist ausgesprochen handlungsarm angelegt. Die beklemmende Beziehungsenge wirkt beängstigend dicht und erschütternd, wenn das Leben zur am Tod gemessenen Schlaflosigkeit verkümmert. Trotz der Kürze bleibt das Werk nicht frei von ermüdenden Wiederholungen. Sprachlich brilliert der Autor, und bei mehr inhaltlicher Bewegung könnten daraus glänzende Werke werden.

Für Eltern-Beziehungsgeschädigte ein interessantes Werk. Note: 2– (ur)<<